Als wir die steile Treppe zum Keats & Shelley- Museum in Rom hinaufsteigen, fühle ich mich immer noch verfolgt. Einen Tag zuvor hatten mir zwei Roma-Mädchen meinen Geldbeutel geklaut, wir waren mitten in einen Hooligan-Aufstand an der Spanischen Treppe geraten, und unsere Handys funktionierten nicht mehr. Ich bin abgeschnitten von Deutschland und de facto identitätslos. Ich überlege gerade, ob mich demnächst jemand den Raubtieren im Kolosseum vorwerfen wird, da höre ich jemandem im vertrauten englischen Akzent reden – “No flash, please” – ein junger Mann im Jackett winkt uns freundlich ins Museum hinein.
Sofort umfängt uns Stille, der feuchte, morsche Geruch kommt nun nicht mehr von den Ruinen Roms, sondern von Wänden voller Bücher. Im “Keats & Shelley”-Museum geht es nicht nur um die letzten Jahre der beiden Poeten (Keats ist in Rom gestorben, Shelley nahe der italienischen Küste ertrunken), sondern auch darum, wie die englischen Romantiker Italien und seine Hauptstadt wahrnahmen. Für viele war es ein Kurort, an dem sie ihre überspannten Nerven ausruhen konnten – so wie die kränkelnde Elizabeth Browning, die jahrelang mit ihrem Mann in Florenz lebte. Und doch hielt Italien nicht nur gute Seiten für die englischen Poeten bereit. Elizabeth Browning schreibt in einem Brief etwa, sie habe Angst, nach Rom zu fahren, weil dort ein “massacre” angekündigt sei – ich muss kurz an den Hooligan-Aufstand denken -; wenig später stirbt sie in Florenz. Shelley erlebte gar eine Familientragödie: Seine Tochter starb in Venedig, sein Sohn kurz darauf in Rom.
“Eine Reise muss, wenn sie nachhaltig auf das Individuum wirken soll, mit Gefahren verbunden sein” – das ist das Motto des Romantic Travellers, und es scheint auch das Motto unserer Reise zu sein. Tatsächlich hat Rom für mich nun einen besonderen Charakter erhalten: den Charakter eines altersschwachen, majestätischen Lindwurms, der in seinem tiefen Schlaf manchmal unwillkürlich seine Klauen bewegt, einen Menschen erwischt und ihn ins Unglück reißt.
Wie erschreckend Identitätslosigkeit sein kann aber auch Befreiung, um die Dinge nur auf sich wirken zu lassen als Impressionen. Die Impressionshaftigkeit die teilweise auch Identitätslosigkeit voraussetzt macht uns anfällig aber auch empfänglich für Stimmungen. Die Identitätlosigkeit und die Heimatlosigkeit und die Fremdheit müssen also nicht nur befremdlich sondern können auch – abgesehen davon dass sie ein Abenteuer sein können – eine Bereicherung sein, weil wir in uns entdecken, was wir sonst an Positivem aber auch an Negativem in uns nicht entdecken könnten. Wir verlieren den Boden unter den Füßen und können fallen oder schweben. Wir können die Angst in uns hallen hören und wir können die Welt erobern. Oder wir können – zwischen beidem hin und her gerissen – unsere Identität als Ball zwischen verschiedenen Zuständen erleben. Und wie den Ball erhaschen ? Und wollen wir ihn erhaschen, wenn vielleicht erst der Schwebezustand als Ball zwischen Bällen oder aber der Schwebezustand zwischen den Bällen erst das für uns ermöglicht, was wir als Kosmos (oder enge oder weite Welt) bezeichnen könnten ? Wollen wir hüpfen oder aus unserer Identität herauschlüpfen oder uns in unsere Identität zurückziehen ? Wie soll unsere Impression von uns sein ? Die Städte sollten zu uns kommen und die Bücher sollten uns lesen und die Meere sollten uns schwimmen und die Bäume sollten ihr Blätterdach über uns neigen …