“They made one feel … that one must always, always write like somebody else”

Das in Schreibratgebern so häufig angepriesene “Show, don’t tell”-Prinzip ist meiner Meinung nach eine Farce der zeitgenössischen Literaturszene – zumindest in dem exzessiven Umfang, in dem es zuweilen betrieben wird. Es ist ein Zugeständnis an das Lesepublikum, das sich an filmische Erzählstrukturen gewöhnt hat (Und der Grund dafür, dass ich kein Filmskript schreiben könnte, es sei denn, es wäre ein experimenteller Film mit wenig Handlung und Dialog oder ein Stummfilm.) Es ist eine Ausrede von Autoren, die ihre Charaktere nicht mit einem komplexen Innenleben, ihr Handlungsgerüst nicht mit philosophischen Betrachtungen anreichern und die Interpretationsgewalt immer mehr an den Leser abgeben wollen.
Dabei kann es so schön sein, als Leser auch einmal wieder den Autor zu hören – das denke ich mir zurzeit bei der Lektüre von Virginia Woolfs Orlando. Wenn Woolf sich mehr an das “Show, don’t tell”-Prinzip gehalten hätte, hätte sie vielleicht niemals solche Perlen produziert, etwa wenn sie über verkannte Genies spricht:

Over the obscure man is poured the merciful suffusion of darkness. None knows where he goes or comes. He may seek the truth and speak it; he alone is free; he alone is truthful; he alone is at peace.

…oder über die Wirkung von Kleidung:

[…] there is much to support the view that it is clothes that wear us and not we them; we may make them take the mould of arm or breast, but they mould our hearts, our brains, our tongues to their liking.

…oder schließlich über Orlando selbst:

She had been a gloomy boy, in love with death, as boys are; and then she had been amorous and florid; and then she had been sprightly and satirical; and sometimes she had tried prose and sometimes she had tried drama.

Auch Orlando wehrt sich dagegen, dass man ständig so schreiben müsse, als sei man jemand anders, als könne man unzählige Personen vorspielen – wenn doch die eigene Innenwelt schon reich genug ist.

3 Comments Add yours

  1. Ein Artikel zur Ergänzung: http://www.writersdigest.com/editor-blogs/there-are-no-rules/why-show-dont-tell-is-the-great-lie-of-writing-workshops

    “A story is not a movie is not a TV show, and I can’t tell you the number of student stories I read where I see a camera panning. Movies are a perfectly good art from, and they’re better at doing some things than novels are—at showing the texture of things, for instance. But novels are better at other things. At moving around in time, for example, and at conveying material that takes place in general as opposed to specific time […] But most important, novels can describe internal psychological states, whereas movies can only suggest them through dialogue and gesture […]. To put it more succinctly, fiction can give us thought: It can tell. And where would Proust be if he couldn’t tell? Or Woolf, or Fitzgerald? Or William Trevor or Alice Munro or George Saunders or Lorrie Moore?”

  2. Gringo says:

    Wie kann man eigentlich auf die Idee kommen, wie Filme schreiben zu wollen, die nur Storyboards bleiben oder wie Figuren schreiben zu wollen, die nur Figuren bleiben oder wie mit Gedanken schreiben zu wollen, die nicht die unseren sind ? Das hört sich an wie Ghostwriter für jemanden zu sein der wir nicht sind. Wer könnte daran Interesse haben ohne – was naheliegender ist – sich für sich selber zu interessieren ? Oder schreibt jemand so, der sich gleichgültig ist ? Oder ist das der Ghost eines Writers oder mehr Ghost als Writer ? Aber wir wollen doch beschreiben, auch dann wenn wir nur skizzieren. Oder ist diektes oder indirektes beschreiben – abgesehen davon dass jede Art von Text eine Beschreibung ist – out ? Also Writer für Ghosts sein ? Dann vielleicht besser Writerghost sein, sofern es uns egal ist, ob sich jemand für uns interessiert weil wir wollen dass sich jemand für uns und nicht nur für in or out interessiert. Also zwischen Seite 1 und etwa 300 spuken um Mitternacht ?

  3. Hallo Gringo, das war wirklich ein toller Kommentar, den du da vor jetzt dann schon beinahe 2 Jahren geschrieben hast. Das mit dem Writerghost, der zwischen den Seiten umherspukt, ist echt klasse. Ich schaue gerade ein paar alte Posts durch und bemerke, dass Vieles, was ich geschrieben habe, irgendwie zusammenhängt mit dem, was ich jetzt schreibe (vielleicht auch darauf hingeführt hat). Das heißt, ich gebe dem Blog nicht nur, sondern er gibt mir auch zurück, das von mir Geschriebene gibt mir wieder etwas zurück, inspiriert neues Schreiben – es schreibt sich so fort 🙂

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