Das tragische Leben der Einzelkinder

Schon seit einiger Zeit liegt ein Buch neben mir auf der Ablage, abseits von allen anderen Büchern. Ich hatte es eines Tages auf gut Glück als jungfräuliches, knickfreies Exemplar aus dem Regal gezogen; jetzt ist es voller kleiner Eselsohren, mit denen ich mir bestimmte Stellen markiert habe.
Es handelt sich um Milan Kunderas Das Leben ist anderswo, ein Titel, den Kundera direkt von Arthur Rimbaud entlehnt hat. Und es ist das Lebensmotto von Jaromil, verwöhntes Einzelkind unglücklicher Eltern. Sein Vater hat eine Affäre mit einer Jüdin (die ihn das Leben kostet), seine Mutter flüchtet sich in die Arme eines Lehrers von Jaromil. Dass seine Mutter ausgerechnet eine Affäre mit seinem Lehrer anfängt, ist nur der erste von mehreren peinlichen Eingriffen in das Leben ihres Sohnes. Als Jaromils Vater tot ist, macht sie es sich nämlich zur Aufgabe, Jaromil zu einem berühmten Dichter “heranzuziehen”. Auch er selbst glaubt, dass er Großes vollbringen kann:

Wenn er aber aus den Augenwinkeln seine eigenen Worte auf den Wänden sah, versteinert, erstarrt, dauerhafter und bedeutender als er selbst, war er berauscht; es schien ihm, als sei er von sich selbst umgeben, als sei er viel, ein ganzes Zimmer, ein ganzes Haus voll.

Doch die Mutter wühlt in seinen Sachen, platzt ins Zimmer, wenn er gerade mit seiner Freundin schlafen will. An dieser Stelle hat das ständige Umsorgtwerden durch seine Mutter bereits Spuren in seiner Psyche hinterlassen: Jaromil will im Mittelpunkt sein, kommt mit Kritik nicht gut klar und verübelt es seiner Freundin, dass er nicht ihr “Erster” war:

Ja, er war bereit, alle ihre Fehler in das alles verzeihende Lösungsmittel der Liebe zu werfen, allerdings nur unter einer Bedingung: dass sie selbst sich gehorsam in diese Lösung legte … dass sie ganz unter der Oberfläche seiner Gedanken und Worte tauchte, dass sie untertauchte in seine eigene Welt …

Das Ganze läuft auf eine handfeste Neurose hinaus, der Jaromil nicht entkommen kann, weder im privaten noch im künstlerischen oder zwischenmenschlichen Bereich.

Im unerwachsenen Mann bleibt diese Sehnsucht nach der Sicherheit und Einheit jenes Universums, das er in der Mutter mit sich selbst ganz ausfüllte, noch lange bestehen, und es bleibt auch die Angst (oder die Wut) angesichts der erwachsenen Welt der Relativität, in der er sich verliert wie ein Tropfen in einem Meer der Fremdheit… [Der Unerwachsene] ist verletzt durch den Verrat des Knöchels seiner Liebsten und durch das Lachen der Massen, und das Drama der Lyrik und der Welt beginnt.

Man könnte über diesen Roman noch mehrere Blogeinträge verfassen, da er auf mehreren Ebenen gelesen werden kann (etwa als Satire auf die damalige gesellschaftlich-politische Situation oder als Lyriktheorie).
Hier sei abschließend nur gesagt, dass der Roman jedem Leser, der sich für minutiöse Seelenschilderungen à la Proust und Kafka interessiert, wärmstens ans Herz gelegt werden kann.

One Comment Add yours

  1. Gringo says:

    So verlockend auch anzuschauen knickfreie, sozusagen makellose, Bücher sind so haben sie doch einen entscheidenden Makel : sie sind noch ungelesen. So sehr es vielleicht gegen die Ästhetik unbeschädigter Existenz verstoßen könnte : erst wenn man einem Buch ansieht, dass es gelesen wird oder wurde fängt es zu leben an und kann sich in uns – unterstützt durch Eselsohren oder Anstreichungen oder gar Kommentare – entfalten. Und aahh es atmet und seufzt und bebt und will vielleicht aufs neue gelesen werden.

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