Zeitzonenkater

Das erste, das ich sehe, als ich in aller Frühe im Flugzeug nach Shanghai meine Augen aufmache, ist ein Kinderfuß, der sich innen vor dem Fenster der Sonne entgegenstreckt. Er ist mit unzähligen Pflastern und weißen Tupfern von Salbe bedeckt. Hat diese chinesische Familie etwa einen mehrtägigen Marsch durch die Taiga Russlands hinter sich?
Erst als das Licht von draußen heller wird, bemerke ich, dass das, was ich für Pflaster und Salbe gehalten habe, eigentlich Socken sind – und zwar die seltsamsten, die ich je gesehen habe. Der Stoff ist durchsichtig wie bei einer Strumpfhose, nur an einigen Stellen sieht man pflasterförmige Flicken. Ob man das wirklich noch als Socken bezeichnen kann, bezweifle ich. Willkommen in der bunten Produktwelt Chinas.
Und nirgends ist diese Welt präsenter als in Shanghai, schließlich ist es die bedeutendste Industriestadt Chinas. Und im Taxi vom Flughafen in die Stadt wird mir auch zum ersten Mal richtig klar, was das bedeutet: Bis man so etwas wie “Kultur” erreicht, muss man schon eine Stunde lang Richtung Stadtmitte fahren. Und wenn man Pech hat, so wie ich, sitzt am Steuer ein schniefender und hüstelnder Chinese im Muskelshirt, der das Radio laut aufdreht, wie eine gesengte Sau fährt und zwischendurch das Lenkrad loslässt, um zu telefonieren.
Und dann bin ich endlich im kulturellen Zentrum, beim People’s Square, kann mein Apartment beziehen und zum ersten Mal die Shanghaier U-Bahn ausprobieren. Einziger “Nachteil”: Überall, wo Menschen unterwegs sind, ist die Konsumwelt natürlich noch präsenter. In der Station “People’s Square” reiht sich ein Modegeschäft an das andere, alles glitzert und flimmert, alles ist in Bewegung. Allein für diese Station bräuchte man einen eigenen Plan – es gibt über 20 verschiedene Ausgänge. Die Shanghaier kleiden sich schick, fast niemand läuft in alten Jeans oder Shirts herum. Selbst in der U-Bahn entkommt man dem Konsum nicht: In den U-Bahnschächten hängen Reklametafeln, die bei einer Fahrt von einer Station zur nächsten vor den Fenstern vorbeiflimmern.
Es ist wie in einem großen, flimmernden Zuckerwatteland, und man muss sich immer etwas davon distanzieren, um sich nicht vollzustopfen. Oder man spürt den Kater am übernächsten Tag noch.

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2 Comments Add yours

  1. almathun says:

    Hört sich spannend an. Bemerkt man etwas von der wirtschaftlichen Rezession?

    1. Also ich bemerke da (noch) nichts, die Chinesinnen laufen nach wie vor mit ihren schicken kleinen Einkaufstütchen rum 😉

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