Kennt jemand dieses profunde Gefühl der Einsamkeit am Ende von Romanen, wenn man realisiert, dass einen die Figuren, die man tage-, vielleicht wochen- oder monatelang begleitet hat, von heute auf morgen aus ihrem weiteren Leben ausschließen? Bei mir war das bei Clemens J. Setz tausendseitigem Roman “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre” der Fall. Obwohl viele Kritiker behaupten, dass man sich mit der Hauptfigur, der (psychisch etwas angeknacksten) 21-jährigen Natalie, nun so gar nicht identifizieren könne, habe ich persönlich erstaunlich viele Identifikationspunkte entdeckt.
Zum Beispiel ihre Neigung, Fantasietiere zu erfinden, die sie vor allem in der Beziehung mit ihrem Ex-Freund Markus ausgelebt hat. Da gibt es zum einen die unsichtbare Maus, die sie sich auf die Schulter setzt (und die dafür sorgen soll, dass sie aufrecht geht und keine Verspannungen bekommt), zum anderen ein nicht näher benanntes weißes Fellbündel:
Es war, als wäre in ihren intimen, spielerischen Gesprächen seit geraumer Zeit ein Kind anwesend, dem man in den Gutenacht-Fortsetzungsgeschichten eine konsistente, widerspruchsfreie Welt bieten musste.
Beide Tiere, Maus und Fellbündel, dienen der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts, die Maus sorgt für das äußere, das Fellbündel das innere Gleichgewicht (Bezeichnenderweise stirbt am Ende des Romans eine weiße Maus – ist nun auch Natalies Gleichgewicht zerstört?).
Eine Vorliebe, die ich ebenfalls sehr gut nachvollziehen kann, ist die für surreale, nicht-vorhersehbare Dialoge. Natalie hasst nichts so sehr wie die Alltagsgespräche, “dieses Spontansein, dieses Blitz-Schach”. Wenn sie mit Freunden redet oder chattet, wirft sie oft Themen oder Satzfetzen ein, die ihr gerade so in den Sinn kommen. “Non-sequitur” nennt sie das:
Man sollte mindestens drei Minuten für seine Antwort brauchen dürfen, ohne dass der andere nervös wurde und fragte, ob man noch da war und zuhörte. Und dann nur ein Wort. Was für eine Welt wäre das. Streit. Liebesgeständnisse. Theaterstücke. Verhandlungen der Vereinten Nationen. Nach jeder Antwort sollte man […] darüber meditieren, was man erwidern sollte.
Es ist das Aufbrechen des Kommunikationsschemas, das Raum für Fantasie, für Poesie lässt. (Wer so etwas in der Art ausprobieren will, sollte mal in Google “Cleverbot” eingeben – das ist ein System, das aus tausenden Nutzereingaben die ihm gerade logisch erscheinendste als Antwort auswählt. Kommen skurrile Sachen dabei raus.)
Auch ein paar echt neurotische Macken haben mich sehr an mich erinnert – zum Beispiel hat Natalie öfter Ohrwürmer von Liedern oder Sätzen, die sich tagelang (manche sogar jahrelang) in ihr Gehirn fressen. Ich würde gerne wissen, ob es noch andere Leute gibt, denen in den unpassendsten Situationen die unpassendsten Sätze (Berühmtes und ansteckendes Beispiel im Buch: “Und so bekam der Leopard seine Streifen”) in den Sinn kommen. Ich für meinen Teil bin in diesen Momenten heilfroh, dass niemand meine Gedanken lesen kann, weil ich sonst wahrscheinlich sofort eingeliefert würde. Aber zum Glück kennt Natalie ein Gegenmittel: die sogenannten “Ohrwurm-Cleaner”. Das sind beispielsweise ihre eigenen Essgeräusche, die sie aufnimmt und dann auf ihrem iPhone hört – die putzen den Gehörgang ordentlich durch. Wahrscheinlich sind diese “Zwangsgedanken” und “Zwangsmelodien” ein Produkt der Moderne, wo uns aus jeder Ecke ein Werbejingle überfällt. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass ein mittelalterlicher Buchmaler, der im Kerzenschein vor seinem Manuskript in seiner kahlen Stube hockt, dieselben Probleme hatte.
Zu diesen Ohrwurmproblemen kommen noch weitere seltsame Macken, bei denen ich nicht verstand, wieso ich sie selbst noch nicht entwickelt habe:
Jedes Mal wenn einem weit entfernten Blitz, dem letzten Wetterleuchten des abziehenden Gewittersturms, kein Donner mehr folgte, musste sie sich räuspern, weil die Welt sonst aus dem Takt geriet und asymmetrisch wurde.
Natalie konnte keinen Lichtschalter betätigen, ohne ihn nicht zumindest für ein paar Sekunden genau an der Übergangskante zwischen Strom und Nichtstrom zu balancieren. […] eines Tages blieb der Lichtschalter im Bad tatsächlich in der Mitte stecken, das Licht flackerte kurz, blieb dann weg, aber der Schalter war weiterhin in labilem Gleichgewicht: parallel zur Wand, im Niemandsland zwischen Ein und Aus.
Es geht Natalie immer darum, die Balance zu finden, sie, wenn sie sie schon nicht im Großen Ganzen finden kann, zumindest in den kleinen Dingen zu finden.
Nachdem ich diese Übereinstimmungen gefunden habe, muss ich zugeben, dass ich wahrscheinlich genauso “fucked up” wie Natalie bin – oder genauso “gesund”. Schließlich lässt sich in Setz-Romanen generell nicht so einfach bestimmen, wer krank und wer gesund ist – das beste Beispiel bietet die Hauptstory dieses Romans (die auf den einschlägigen Internetseiten nachgelesen werden kann).
Setz ist etwas Seltenes gelungen: er hat die kleinen Macken, Dysfunktionen aufgedeckt, auf die wir selbst nicht unseren Finger legen – vielleicht auch, weil sie uns in dem Moment zu banal erscheinen; doch er schafft es, sie in einem größeren Kontext zu betrachten. Überhaupt umfasst sein Kontext meistens die ganze Welt, manchmal reicht er sogar darüber hinaus, bis zu den Sternen – darunter tut er’s nicht. Und er schafft damit ein großartiges Psychogramm einer verlorenen Seele in einer verlorenen Welt.
Zu Verlassensein und fucked-up kann ich, zumindest subjektiv was mich betrifft, gerne bestätigen, dass mich ebenso manchmal Liedteile und Satzteile unergründlich wie irre Kurzschlüsse verfolgen und dass es mir am Ende von guten Romanen ebenso schwerfällt manche Figuren zu verlassen und sich dann Melancholie ausbreitet. Schön zu wissen, dass es Anderen auch so ergeht, nachdem wir doch so wenig von einander wissen und uns selber oft für verrückt halten.