Leseimpressionen: Hélène Cixous

Ich bin eine Frau. Wann? So oft wie möglich und notwendig. Und vor allem dann, wenn ich beginne, ein neues Haus zu bauen oder ein neues Buch ins Leben zu rufen, mit den rituellen und ängstlichen ersten Schritten. Oder vor allem bei der ungeschickten, versuchsweisen Gründung einer zerbrechlichen, provisorischen Stadt, die ich lebendig, aber zitternd vor Schüchternheit aus dem Land meiner Phantasie herausziehe. Vor allem bei der Schöpfung dieser ungewissen Gegend. Dieses Etwas, diese verrückte Kreatur, dieses Traumbild, das stärker ist als ich … und, kaum von mir ausgegangen, mir entgleitet, sich erhebt, Berge ersteigt, galoppiert, und ich muß mich sofort daranmachen, zu klettern, zu reiten, ich muß versuchen, sie wieder einzuholen…

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(www.refugiumdeswissens.wordpress.com)

Es passieren andere seltsame Dinge: Jede Seite, die ich schreibe, könnte die erste Seite des Buches sein. Jede Seite ist ganz und gar im Recht, die erste Seite zu sein. Wie ist das möglich? Das liegt daran, daß dieses Buch sich in den Tag hineinschreibt, und jeder Tag ist der wichtigste, der, der gerade abläuft. Ich brauche für jeden Tag die ganze Zeit.

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(http://photo.blog.sina.com.cn/category/u/2437088677)

[W]as Schreiben bedeutet: eine Gratwanderung auf der schwindelerregenden Stille, und währenddessen setzt man ein Wort nach dem anderen auf der Leere auf. Schreiben ist wunderbar und entsetzenerregend, wie der Flug eines Vogels, der keine Flügel hat, sich trotzdem emporhebt, und die Flügel kommen erst mit dem Fliegen.

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Die schönsten Dinge kann man nicht schreiben, leider. Glücklicherweise. Man müßte mit den Augen schreiben können, mit verstörten Augen, mit den Tränen der Augen, mit der Verstörtheit der Blicke, mit der Haut der Hände.

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(www.blindenmuseum-berlin.de)

Ich habe Angst, weil ich um ein Haar gar nicht geschrieben hätte. Und schlimmer noch: Um ein Haar würde ich jeden Tag gar nicht schreiben.

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(www.lovek.org)

aus: Hélène Cixous: Das Buch von Promethea

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