Vor gut einem Jahr habe ich den zweiten Teil von Edgar Reitz` Heimat-Serie, “Chronik einer Jugend”, beendet. Ich erinnere mich noch genau an die Stimmung damals, an die ruhigen, sonnigen Wochen, in denen ich zusammen mit dem Musikstudenten Hermann durch das gemütliche, melancholische, doch unter der Oberfläche auch sinistre München der 60er Jahre gestreift bin. Seitdem kamen mir immer wieder Menschen aus meiner Bekanntschaft in den Sinn, deren Leben man im Zuge einer solchen Serie ebenfalls porträtieren könnte, die durch das heutige München streifen und dort ihre ganz individuellen Spuren hinterlassen. Denn die Figuren aus Heimat laden zur Identifikation ein, ohne Blaupausen zu sein: da ist der abgehobene Langzeitstudent, der in Heidegger-Zitaten redet, der hochbegabte Ausländer mit Stipendium, den die eigene exotische Heimat, die für viele Deutsche ein Traum ist, langweilt – und da ist Hermann selbst, der ewig brot-, aber nie hoffnungslose Künstler, der mit uns staunend durch die Welt schreitet.

Der dritte Teil der Heimat-Saga, den ich mir nun in den letzten Wochen zu Gemüte geführt habe, ist unbeschwerter als der zweite: herrschte in Heimat 2 die düstere, unsichere Stimmung einer jungen Generation in einem Land vor, dessen Kriegswunden sich gerade mit einer ersten heilenden Kruste bedecken, das noch zu erschöpft und verwirrt ist, um seine verstreuten Körperteile wieder zusammenzusuchen, spürt man in Heimat 3 nun die Erleichterung einer Nation, die sich wieder ganz erholt hat und sich nun wie von selbst wieder zusammenfügt. Die Diskussionen drehen sich nicht mehr um Kunst und Literatur, um Grundsätze, sondern um Familie und Arbeit. Liegt über Heimat 2 immer eine Aura des Unwirklichen, so werden in Heimat 3 die Dinge wieder konkreter, fassbarer.
Heimat
Edgar Reitz` Serie handelt davon, wie einen die Vergangenheit immer wieder einholt – zuerst, in Heimat 2, zieht Hermann nach München, heiratet aber ein Mädchen aus seinem Heimatort, dann, in den ersten Folgen von Heimat 3, kommt er endlich mit Clarissa zusammen, zieht mit ihr jedoch in ein Haus ganz in der Nähe des Ortes, wo er aufgewachsen ist. Heimat und Freiheit, so scheint es, muss er sein ganzes Leben lang immer wieder gegeneinander abwägen, genauso wie das Gegensatzpaar „Kunst“ und „Leben“.
Zuerst sieht es so aus, als hätten Clarissa und Hermann in dem alten Fachwerkhaus über dem Rhein, das sie restauriert haben (und in dem anscheinend einmal die Dichterin Karoline von Günderode gelebt haben soll), endlich einen Ruhepunkt gefunden. Dann jedoch geschehen in dem Haus merkwürdige Dinge: Türen gehen plötzlich auf, Dinge fallen auf den Boden und Clarissa beginnt, komische Töne zu hören. Hermann befürchtet, mit halb ängstlicher, halb poetisch-getragener Stimme: „Vielleicht will uns das Haus gar nicht.“ Wir erinnern uns: Dasselbe hatte er 1963 auch schon über München gesagt, nachdem ein paar aggressive Polizisten seine Gitarre zertrümmert hatten. Kehrt die Vergangenheit zurück?

Liebe: Hermann und Clarissa
Das, was Hermann und Clarissa miteinander haben, braucht keine offizielle Bezeichnung oder Absegnung – sie wissen selbst am besten, was für ein spätes Wunder es ist, dass sie endlich zueinander gefunden haben. Tatsächlich wird kein einziges Mal von Heirat gesprochen und es wird bis zum Schluss nicht klar, ob sie es nun wirklich “getan” haben oder nicht. Dennoch sind die beiden bürgerlich geworden – oder versuchen zumindest, es zu sein: Hermann ist nun ein renommierter Dirigent, das eigene Komponieren scheint ihm nicht mehr so wichtig zu sein; als er den Auftrag bekommt, eine “Wiedervereinigungssymphonie” zu schreiben, geht die Arbeit nur schleppend voran. Auch Clarissa scheint auf ihren Liederabenden eher fremde als eigene Kompositionen vorzutragen.
Wie schon früher versucht Clarissa aber irgendwann, sich Hermann zu entziehen. Sie macht eine Welttournee und beginnt sogar eine Affäre mit einem ihrer “Bandkollegen”. Erst jetzt, im leeren Haus, gelingt Hermann endlich seine Symphonie, während Clarissa die Welt erobert; anscheinend haben sie immer nur dann Erfolg, wenn sie aufhören, umeinander zu kreisen (auch in Heimat 2 ging es mit Clarissas Karriere steil bergauf, nachdem sie Hermann verlassen hatte). Das Paar ist kurz davor, sich zu trennen, da stehen eines Tages Clarissas Koffer im Haus. Hermann entdeckt Clarissa weinend im Bett. Sie hat eine schreckliche Diagnose erhalten: Krebs. Clarissa bleibt bei Hermann. “Leben” siegt über “Kunst”.
Kapitalismus
In Heimat 3 erleben wir den Kapitalismus in seiner Blütezeit. Es ist ein einziges Hin und Her von Materialien, Geld und Arbeitskräften, ein modernes Piratentum, das sich da vor den Augen der Zuschauer abspielt: Hermanns Halbbruder Ernst will in Russland billig Gemälde erbeuten, der Ossi Gunnar demontiert Stück für Stück die Berliner Mauer, um sie bröckchenweise an die Amis zu verkaufen, sein Freund Udo wiederum lässt alte Wohnungen im Osten sanieren und verschachert sie an reiche Westler. Irgendwann hat man den Eindruck, ganz Deutschland sei einmal ab- und wieder aufgebaut worden.
Doch die ganze Brutalität des Kapitalismus zeigt sich erst dann, wenn es um den Einzelnen geht: als der ausländische Junge Matko von einem Detektiv (der sich wiederum auch ein Stück vom Kuchen verspricht) zum unehelichen Sohn von Ernst erklärt wird, der seine Kunstsammlung und sein Vermögen erben soll, zieht er den Hass der gesamten Verwandtschaft und der Dorfbewohner auf sich. Auch Hermann, der ihn unter seine Fittiche nehmen will, kann am Ende nicht verhindern, dass dem Jungen die Sache über den Kopf wächst und er Selbstmord begeht. Und plötzlich wird einem klar, wieso Hermann sich im Umgang mit seinen Verwandten immer so kurz angebunden und hochnäsig ist: diese Art von Kleingeistern, die ihre Tage damit zubringen, anderen den Erfolg zu neiden und Erbdiagramme zu zeichnen, repräsentieren gerade die Art von Mentalität, die ihn damals aus dem Hunsrückdorf weggetrieben hatte.

Die Brüder: Anton und Ernst
Patriarch Anton, der älteste unter den Brüdern und Vorzeigekapitalist, versucht alle und alles zu kontrollieren; auch die Familie ist nur ein Teil seines Imperiums (Bezeichnend seine Bemerkung über die Kameralinsen, die seine Firma Optik Simon herstellt: „Da wird jede Hautpore von euch so scharf abgebildet, dass ma eure Gedanken hinter der Stirn lese kann“). Doch Anton verlässt die Welt vor seiner Zeit, und auch seine traditionsreiche Firma wird insolvent, nachdem sein Sohn Hartmut das Steuer übernimmt.
Der, der nun die Chance hat, wirklich seine Spuren zu hinterlassen, ist Ernst, Antons Bruder und Hermanns Halbbruder. Lange im Dorf als Sonderling und Eigenbrötler verschrien, will er jetzt in Schabbach ein Museum einrichten lassen, das er mit seinen eigenen gesammelten Kunstschätzen zu füllen beabsichtigt. In einem eigens dafür angelegten Stollen hat er eine riesige Sammlung alter Kunstwerke, Vergangenheit, die bei konstant 16 Grad Plus konserviert wird. Doch nicht alle sind mit dem Museumsbau einverstanden; mit seinem Flugzeug, in dem er ständig über die Köpfe der Dorfbewohner hinwegfliegt, und dem Stollen, in den er sich ständig verkriecht, stellt er die Verkörperung dessen dar, was sie den „Simonschen Hochmut und Größenwahn“ nennen.
Vielleicht soll Ernst uns zeigen, was aus Hermann geworden wäre, wäre dieser in Schabbach geblieben: ein Eigenbrötler mit einem gewissen Sinn für Kunst, der bei den Dorfbewohnern etwas gelten will, weil es das einzige Publikum ist, das er hat und der gleichzeitig von der großen weiten Welt träumt. Wie Hermann will auch er jetzt endlich „sesshaft“ werden, am besten mit Kind und einer passenden Frau dazu. Skurril die Szene, in der er einem Detektiv ein Album mit seinen „Bodenberührungen“ übergibt – soll heißen, ein Album mit Bildern von Frauen, mit denen er kurze Beziehungen gehabt hat – und ihn darum bittet, nachzuforschen, ob aus diesen Begegnungen vielleicht doch Nachwuchs entstanden ist. Doch daraus wird nichts, genauso wenig wie aus dem Museum: der Dorfrat lehnt den Bauplan ab und Ernst setzt sich verbittert in sein Flugzeug. Der laute Knall, als sein Flugzeug gegen eine Bergwand prallt, ist das letzte Lebenszeichen, das man unten im Dorf von ihm vernimmt.

Man fragt sich unwillkürlich, ob Hermann auch so geendet hätte, wäre er in seiner Heimat geblieben – und womöglich hätte es bei ihm keine 40 Jahre gedauert. Es scheint, als hätte Hermann erst aus seiner Heimat weggehen müssen, um sie aus einer neuen, gesünderen Perspektive betrachten zu können und sich dann, gezielt und aus eigener freier Entscheidung, wieder in ihr niederzulassen. Und der Ort, für den er sich schließlich entschieden hat, scheint wirklich mit Bedacht gewählt: hoch oben über dem Hunsrück, wo der Neid und die Stumpfsinnigkeit der Landbewohner ihm nichts anhaben können, wo er in nichts verstrickt wird. Hermann ist zurückgekehrt, aber er wird nie wieder ein richtiger „Schabbacher“ werden.

Natürlich gibt es noch eine ganze Reihe von Aspekten, die ich in meinem Eintrag vernachlässigen musste – zum Beispiel Hermanns Tochter Lulu, die ihm in ihrer Widerspenstigkeit so ähnlich ist, oder die Darstellung der politischen Geschehnisse in der Zeit. Falls jemand von euch die Serie kennt und dazu noch etwas anmerken möchte – feel free to comment!