oder: Eine Jugend in Deutschland
Derzeit falle ich mal wieder übelst in meine Jugendzeit zurück. Da sieht man mich dann auf dem Sofa chillen, Spaghetti Bolognese schlürfen (dieser Tage vegetarisch) und die Webserie Girl Cave schauen. Und nein, das ist zur Abwechslung mal keine angloamerikanische Serie, sondern eine deutsche, die sogar von den öffentlich-rechtlichen produziert wird! War ich nach der ersten Folge noch skeptisch, so musste ich mir nach einiger Zeit eingestehen: Langsam scheinen die Deutschen in Sachen Serien wirklich dazuzulernen! (Ich setze ja auch große Hoffnungen in Tom Tykwers Babylon Berlin.)

Girl Cave ist dabei mehr britisch als amerikanisch, mehr Ironie als Drama, mehr Skins als Girls. Es geht um die 16-jährige Julija, deren Mutter, sie sie selten zu Gesicht bekommen hat, plötzlich stirbt und Julija ein merkwürdiges Buch mit „Lebensratschlägen“ hinterlässt. Gemeinsam mit ihren Freundinnen Zada und Caro macht sie sich daran, das Buch nach und nach durchzuarbeiten und lernt dabei so Einiges dazu, das sich nur außerhalb der Schulwände erfahren lässt. Zada und Caro gehören dabei mit zu den sympathischsten Figuren, die man in deutschen Serien bis dato erleben durfte. Caro, das praktische No-Nonsense-Mädchen vom Bauernhof, ist dabei die Figur mit dem höchsten komischen Potenzial; Zada die Art von Nerd, die ich immer sein wollte: gefestigt in ihren Ansichten, zielstrebig und selbstironisch.
Eine der besten Episoden ist die, in der die Mädchen laut einer Anweisung im Buch von Julijas Mutter zunehmen sollen und Caro sich daraufhin mit Schweinefutter mästet, in einem selbstgebauten Survival-Camp übernachtet und ihre rohkostinduzierten Halluzinationen für ein Zeichen hält, dass sie eine höhere Bewusstseinsebene erreicht. Eine wahrhaft gelungene Parodie auf die New Age-/Rohkost-Jünger, die sich oftmals in die eigene Tasche lügen. Leider sind die einzelnen Girl Cave-Folgen oft zu kurz, um den Themen wirklich Raum zu geben, sich zu entfalten. Man würde sich eine circa halbstündige Show mit vielen Staffeln wünschen, die die Entwicklung der Charaktere über Jahre hinweg beleuchtet.

So ungefähr wie der Romanzyklus Das verborgene Wort – Aufbruch – Spiel der Zeit – Wir werden erwartet von Ulla Hahn. Nachdem ich die ersten beiden Bände mit großem Genuss in meiner Jugend verschlungen hatte, widme ich mich derzeit dem dritten Band Spiel der Zeit. Die Themen sind ähnlich wie in Girl Cave: Umgang mit der Außenwelt, wenn man nicht der „Norm“ entspricht, Ablösung von den Eltern, erste romantische Verwicklungen. Und wie in Girl Cave kommen in Spiel der Zeit die Leitmotive Musik und Tanz, Verkleiden und Rollenspiel vor. Doch während die Figuren in der Serie ihre potenziellen love interests beim gemeinsamen Gitarrespielen bzw. auf der Cosplay-Party kennenlernen, lernt Hilla Palm in Hahns Roman ihre erste große Liebe ganz klassisch auf dem Kölner Karneval kennen: „Doch um wie vieles reizvoller war dieses Maskenspiel, dieses Spiel von Verhüllen und Entblößen, Verbergen und Vorzeigen … wie viel raffinierter als das Pläsier der Ringelhemdchen und Rüschenblusen. Käfer und Raupe in ihren grotesken Kostümen hatten nur die Sprache ihrer Augen und Hände.“
Klingt, als hätte man sich gesucht und gefunden; der „Käfer“ wird dann auch tatsächlich Hillas Verlobter. Die Blaue Blume der Romantiker wird ihr gemeinsames Symbol: „Weiß man ja: Rot steht für Liebe und Leidenschaft, die rote Rose der Liebe, rote Nelken am 1. Mai. Aber in die Blaue Blume kannst du alles Mögliche und Unmögliche hineinträumen.“ Der Liebende als Projektionsfläche der eigenen Wünsche und Gedanken? Das geht in den wenigsten Fällen gut, doch Hilla und Hugo wissen um Projektionen und Masken und versuchen, sich diese gegenseitig vom Gesicht zu reißen. Zugleich aber brauchen sie ihre erträumten Rollen, ihre hehren Ideale: „Ein Leben im „als ob“: das war Hugos Maxime. Besser werden durch ein Leben, als ob ich schon besser wäre. Höher, schöner von sich denken, als man ist – und danach handeln. Wir liebten die herrlichen Bilder, die wir uns voneinander füreinander erschufen, und versuchten, den Bildern nahezukommen.“
Auch das Verhältnis zum Vater war über ihre Jugendjahre hinweg prägend für Hilla Palm. Die Mutter scheint eher in den Hintergrund zu rücken – gerade weil Hilla, nicht selbstverständlich für ihre Generation, in der (glücklichen) Lage ist, ihren Vater nicht im Krieg verloren zu haben. (Vergleiche zum Beispiel die Serie Heimat oder Sartres Autobiographie Les mots, in denen umgekehrt die Abwesenheit des Vaters die Protagonisten prägt – in positiver und in negativer Weise). Übrigens rücken auch in Girl Cave die Väter in den Vordergrund: Julijas Mutter hat sich ja zeitlebens nie um sie gekümmert und in Zadas Fall scheint ihr Vater den Großteil der Erziehung zu übernehmen, etwa wenn er ihr von seinem ersten Liebeskummer erzählt.
Hillas Vater dagegen würde niemals auf die Idee kommen, ihr von seinen Liebessorgen zu erzählen. Er ist ein verschlossener Mensch, einer, der alles in sich hineinfrisst und manchmal passiv-aggressive verbale Schläge austeilt. Doch nachdem Hilla durch ihr Studium in Köln etwas Distanz zu ihrem Elternhaus gewonnen hat, wird ihr Verhältnis etwas entspannter: „Mit dem Vater dagegen erlebte ich hin und wieder Augenblicke, als sähen wir uns zum ersten Mal. Erschreckende Sekunden waren das, aber ein Erschrecken voller Freude.“ Etwas, das ich – und wahrscheinlich viele Arbeiterkinder – nur zu gut aus dem eigenen Elternhaus kenne: „Denn das bildete den Kern unserer Gespräche, die eher kleine Vorträge waren. Sie hielten unsere Rede und damit uns selbst in der Schwebe. Wir blieben sachlich. Die klare Sache, die Fakten, standen nicht zwischen uns, vielmehr schufen sie ein neues Miteinander und verschafften uns ein Gefühl der Sicherheit.“
Was mir zu meiner Freude gleich auf den ersten Seiten entgegenspringt: Hillas Faszination für Worte ist ungebrochen. Bücher und Worte entfalten vor ihr eine unangetastete, unverbrauchte Welt, die ihr die Wirklichkeit vom Leib hält: „Alles wie in den Wörtern vor Beginn ihres Gebrauchs: unversehrt. Heil. Heil jeder Zweig, jeder Grashalm, jeder Kiesel, jede Schneeflocke, Flocken auf mein Gesicht, das ich ihnen entgegenhielt… Noch ist nichts eingewachsen, alles leichthin abzuwischen.“
Dennoch verschiebt sich ihr Leben immer mehr in die sogenannte „Realität“, nicht zuletzt durch ihre neue Beziehung und durch den Schwung der 68er, der auch Hilla ergreift und an vorderer Front mitdemonstrieren lässt. Leider lassen mich persönlich diese Schilderungen der Studentenbewegungen relativ kalt, besonders wenn sich die rednerischen Ergüsse vornehmlich männlicher Subjekte seitenlang hinziehen. Mit der ganzen Katholizismus-Sache, die bei Hilla eng mit der Veränderung der gesellschaftlichen Situation verbunden ist, gehe ich ohnehin nicht mit – dazu sind mir Kirchenglocken intuitiv zu verhasst. (Und wenn ich dann lese, dass ein Kaplan in Hillas Jugend beim Aufstieg auf einen Kirchenturm in ihre Kniekehlen onaniert hat (!), kommt mir sowieso das kalte Grausen.) Doch es sind wohl notwendige Ereignisse in Hillas Leben, die sie zu dem machen, was sie ist und entscheidende Weichen für den vierten Romanteil „Wir werden erwartet“ legen. Einmal mehr merke ich: „Wie wenig das Leben des Menschen verändert wird durch das, was er nur weiß, aber nicht am eigenen Leibe verspürt.“
Wie lang es wohl dauern wird, bis ich meine Jugend verarbeitet habe und sie nicht mehr aufwärmen muss wie die halb gegessenen Spaghetti-Bolognese, die neben mir stehen? Na ja, solange es mir eben schmeckt. Viele Gerichte entfalten nämlich – alte Hausfrauenregel – erst nach mehrmaligem Aufwärmen ihren vollen Geschmack.