Der erste Teil meiner Kurzgeschichte über die Ankunft in einer Stadt, von der man sich viel erwartet und trotzdem immer wieder überrascht wird.
Welcome to Beijing
Unsere dritte lange Zugfahrt in China führt vorbei an Trabantenstädten und fernen Bergkuppen im Abendblau. Aus der Ferne, wenn sich die Hochhäuser optisch zusammenziehen, sieht jede chinesische Kleinstadt wie Peking aus. Mehrere Male spähe ich aus dem Fenster und denke: „Wow, das muss es jetzt aber sein!“ Doch jedes Mal, wenn wir näher kommen, ziehen sich die in den Himmel ragenden Gebäude langsam auseinander, bis man die Kleinbauten und öden, leeren Flächen dazwischen sieht. Mist, wieder nur eine Kleinstadt!
Oder eben das, was man in China unter einer Kleinstadt versteht. Ich merke, dass sich die Größenverhältnisse in meinem Kopf langsam verschieben – alles, was unter einer Million Einwohner hat, kann ich nicht mehr so richtig ernst nehmen (anstatt der Höhenkrankheit, wenn man länger im Gebirge unterwegs war, leide ich wohl an der Größenkrankheit – hoffentlich wird das wieder, wenn ich nach Deutschland zurückkomme). Für mich sind die 500000-Einwohner-Städte, durch die wir fahren, nur gedämpfte, ruhige Vorboten des großen Stadtungetüms, das uns erwartet.
Und dennoch habe ich auch ein bisschen Angst, dass Peking zu viel für mich sein könnte. Schon Shanghai hatte damals an meiner Substanz genagt – die schwindelerregende Höhe, aus der ich in meiner Sprachschule am People`s Square durch die verglaste Front nach unten auf die Straße blickte, die Klimaanlage, die einem am Tag vorgaukeln, dass man ohne sie verloren ist wie Astronauten in den sauerstofffreien Tiefen des Weltalls und einem in der Nacht heimlich die kalte Luft in den Rachen haucht. Ja, wenn Shanghai schon an meiner Substanz genagt hatte, würde mich das fast dreimal größere Peking dann nicht auf der Stelle mit Haut und Haaren verschlingen?
Zuerst einmal bleibe ich mit dieser Angst im Ungewissen, denn selbst als es über Lautsprecherdurchsage heißt, dass wir in Peking angekommen seien, dauert es noch ewig, bis der Zug endlich zum Stillstand kommt. Die Stadt zieht sich in die Länge, wie ein überlanger Vorspann, der einen im Kino unruhig auf dem Sitz herumrutschen lässt, ein Vorspann zu – ja, zu was? Einem Historienfilm? Einem Liebesfilm? Einem Thriller? Dazu tröpfelt aus den Lautsprechern kitschige C-Pop-Musik – da ist mir das stilvolle Jammern der Pekingoper-Sängerinnen lieber.
Die Chinesen mir gegenüber jedenfalls vertreiben sich das Warten auf den Film auf chinesische Art: mit Essen. Nacheinander packen alle ihre Leckereien aus: der Vater holt heißes Wasser, die dicke Tochter in ihrem XXL-Jogginganzug mit der Aufschrift „Men hunter“ knabbert genussvoll an einem Würstchen, der Sohn beißt in eine obszön lange Gurke, sogar Tongeschirr wird auf den Tisch gestellt. Plötzlich traue ich mich nicht mehr, meine kalten Fast-Food-Nudeln auszupacken, die noch vom Mittagessen in einer anderen Provinz übrig sind, knabbere stattdessen verstohlen an ein paar Kartoffelchips. Dazu höre ich Suzanne Vega`s Klassiker Tom`s Diner, wie passend: I`m pretending/Not to see them/And instead/I pour the milk.
Zur Krönung packt der Großvater, der mir gegenüber sitzt, nach dem Essen seinen Bauch aus und verpasst sich eine Insulinspritze. Fehlt nur noch, dass er sich das Gebiss herausnimmt und poliert, denke ich. Und: seine dicke Enkelin sollte besser mal weniger von diesen in Plastik abgepackten Würstchen essen, sonst kann sie sich demnächst auch ein ganzes Arsenal von Spritzen in ihren Speckgürtel stecken. Eigentlich ist es das erste Mal, dass ich hier in China so eine dicke Person sehe. Vielleicht die Nähe zur Hauptstadt, in der es sämtliche Verlockungen gibt? Tatsächlich scheint sie dicker zu werden, je näher wir dem Stadtzentrum kommen. Als ein Familienmitglied aufs Klo geht, dehnt sich ihre Körpermasse erleichtert auf zwei Sitzplätze aus, während sie weiter Plastikpackungen aufreißt, Nudeln schlürft, Wurstzipfel abbeißt. Es wird immer stickiger im Abteil, ihr dicker Bauch quillt über den Tisch, ihre Arme dehnen sich und packen mich an der Kehle, drücken zu… da kommt der Zug plötzlich zum Stehen.
Mit einem erleichterten Zischen entweichen die ersten Passagiere und Essensschwaden aus dem Waggon. Zum Glück hilft ein schmaler Chinese mit Brille mir, meinen großen Überseekoffer von der Gepäckablage zu hieven. So zuvorkommend hier alle, selbst noch in der Hauptstadt. Ich hoffe nur, dass nicht wieder ein ungeduldiger Rollerfahrer meinem Koffer gegen meinen Koffer knallt, so wie in Luoyang. Und ich bete, dass die Taxen in der Hauptstadt groß genug sind und ich nicht wieder plötzlich auf halber Strecke merke, dass mein Koffer klammheimlich ein wenig frische Luft schnuppert (so wie in Kaifeng). Denn ich weiß nicht, ob ich im Umgang mit dem Pfefferspray schon so geübt bin, dass ich von der Rückbank über die Kofferraumablage hinweg genau in das Gesicht eines Kofferdiebes treffe.
Greta wartet draußen schon auf uns, sie war klüger als wir und hat nur einen Backpack voll Sachen mitgenommen. Gemeinsam schieben wir uns mit den Massen dem Ausgang entgegen, passieren die Passkontrolle und stehen dann endlich in der frischen Nachtluft, vor einem erstaunlich traditionellen Gebäude mit zwei Uhren-Pagodentürmchen. Beijing Central. Die Taxischlepper, die in den kleineren Städten in Rudeln oder als Einzelwölfe unterwegs waren, kommen jetzt in Horden auf uns zu: Da che! Da che! Nimen qu nali-a? Wu shi qian, hao ba? Wir sind nahe dran, uns „abschleppen“ zu lassen – die siebenstündige Reise in dem engen, stickigen Abteil hat uns schon recht geschlaucht.
Dennoch kratzen wir noch unseren letzten Rest an Würde zusammen und stellen uns ganz hinten in die riesige Schlange des regulären Taxistandes. Ein bisschen kommen wir uns vor wie Flüchtlinge, mitten in der Nacht an einem wildfremden, beängstigenden Ort gestrandet und umringt von Personen, die wie wir mit unruhigen Augen das Geschehen ganz vorne in der Schlange mitverfolgen und sich fragen, ob sie heute noch ein Dach über dem Kopf bekommen werden – es ist halb zwölf Uhr nachts. Quengelnde Kinder, die an den Armen ihrer Mütter herumzerren. Junge Männer, die es sich auf Decken am Boden gemütlich gemacht haben und eine Runde Mahjongg spielen. Ein junges Paar, sie mit Kopftuch und Baby im Arm, er ein sehniger, magerer Jüngling mit wilden Haaren und großen europäischen Augen, das erste Augenpaar seit langem, in dem sich die Gewalt und die unbegrenzten Möglichkeiten der modernen chinesischen Städte widerspiegelt. Augen, die den Blick in die Ferne gewöhnt sind, nicht den nach oben. Vielleicht ein Pärchen aus Xinjiang? Oder „richtige“ Ausländer, aus Kirgistan oder Turkmenistan?
In Peking ist jeder ein Flüchtling, der keinen „hukou“, keinen festen Wohnsitz in der Stadt hat. Die Wanderarbeiter leben in winzigen Verschlägen im Schatten der Hochhäuser, wenn sie Glück haben; wenn nicht, auf dem Mittelstreifen einer viel befahrenen Straße, wo das Leben mit Tempo 80 an ihnen vorbeizieht.
Teil 2: coming soon…