Früh brechen wir zu unserem Ausflug zur Verbotenen Stadt auf, denn der Himmel verspricht an diesem Tag nicht nur traumhaftes Wetter, sondern auch große Besuchermassen. Viel habe ich über die ehemalige Residenz des Kaisers schon gehört und gelesen, ob die Erzählungen und Reiseberichte zu viel versprochen haben, wird sich zeigen. Besonders ein „Bericht“ hat ganz entscheidend das Bild mitgeprägt, das ich mir im Vorhinein bereits von der Palastanlage gemacht habe. Es handelt sich um den Roman Cox oder der Lauf der Zeit von Christoph Ransmayr.
In diesem historischen Roman erzählt Ransmayr die Geschichte des englischen Uhrmachers Alistair Cox, der einen Auftrag des chinesischen Kaisers Qianlong annimmt und zusammen mit seinen drei engsten Mitarbeitern nach Peking reist. Dort soll er, einquartiert in eine aufwändig ausgestattete Werkstatt in der Verbotenen Stadt, einige ungewöhnliche Uhren für den Kaiser bauen, die ganz individuell die Zeit (bzw. Zeitwahrnehmung) eines Kindes, eines Sterbenden, eines Liebenden anzeigen. Doch ob Cox am Ende wieder in seine Heimat zurückkehren kann, hängt ganz davon ab, ob sein Werk den Kaiser zufrieden stellt… Ein Leseerlebnis, das ich mir nicht entgehen lassen konnte, zumal gleich zwei meiner Lieblingsthemen behandelt werden: die Zeit und China.
Ransmayr schafft es, in seinem Roman die alte Verbotene Stadt der vergangenen Jahrhunderte wiederauferstehen zu lassen, in ihrer ganzen vollendeten Eleganz und Pracht, aber auch in ihrer rigiden Ordnung und erstickenden Standesdünkelei. Wer in der Verbotenen Stadt lebt, hat die Sicherheit, dass sich sein Leben an Linien ausrichtet, die so exakt und selbstverständlich verlaufen wie die Bahnen, die die Planeten jeden Tag beschreiben – doch er muss dafür ein Minimum an persönlicher Freiheit in Kauf nehmen. „[D]iese himmelweiten Flächen zwischen Palästen und Pavillons mit ihren goldenen, geschwänzten Dächern, Bauten in vollendeter Symmetrie … diese genauestens mit abgezirkelten und wie mit dem Lineal gezogenen Wege, die jeder Bewohner gemäß seinem Rang so streng einzuhalten hatte, als bewegte er sich auf einem über alle diese weiten Höfe gebreiteten, riesigen Schnittmusterbogen…, die von Sonnen- und Sand- und Wasseruhren angezeigten Tages- und Nachtstunden, zu denen ein Palast, ein Hof, ein Garten und betreten oder verlassen werden mußte,…“
Genau diese Uhren sind es, die mich am meisten interessieren, und ich hoffe, in der berühmten Uhrenausstellung auf einige Exemplare zu treffen, die in Cox oder der Lauf der Zeit beschrieben werden. Zunächst jedoch geht es durch die prächtigen Großen Thronhallen, die vorwiegend dem Empfang von Gästen dienten. Bereits hier findet man Beweise für die Besessenheit des Kaisers Qianlong von Messwerten und Zahlen: Genau neunmal mussten Besucher hier früher den Kotau vor dem Kaiser machen – denn die Neun gilt in China seit jeher als Glückszahl. Ein Grund dafür mag sicher darin liegen, dass die Aussprache dieser Zahl im Chinesischen identisch ist mit der Aussprache des Zeichens „für immer“. Außerdem steht die Neun für den Drachen, der in China viele Jahrhunderte lang als Gott verehrt wurde (deshalb gibt es in so vielen chinesischen Städten auch eine „Neun-Drachen-Mauer“).
Auch die Geometrie der Verbotenen Stadt folgt genauen Zahlen- und Messwerten. Die Länge und Breite der Haupthallen stehen im Verhältnis 9:5 zueinander – 9 als Glückszahl, 5 als kosmische, harmonische Zahl (siehe die fünf Elemente und Himmelsrichtungen im Feng Shui). Einer Legende zufolge soll es in der kaiserlichen Residenz außerdem genau 9999,5 Räume geben – Experten sollen jedoch herausgefunden haben, dass es etwas weniger sind.
Schon in den Hallen fallen uns ein paar Messinstrumente auf, die symbolisieren sollen, dass der Kaiser die Macht über sämtliche Parameter der diesseitigen Welt wie Temperatur, Luftfeuchte und die Jahreszeiten hat. Und natürlich über die Zeit. Denn die Uhrenausstellung übertrifft alles: Über 200 prachtvolle antike Uhren aus England, Frankreich und China sind hier aufgereiht. Die Palette reicht von goldenen Chinoiserie-Uhren mit Vogel-, Elefanten- und Blumenmotiven über Uhren in Form von Pagoden und Tempeln bis hin zu einer riesigen hölzernen Wasseruhr.
Die in Cox oder der Lauf der Zeit beschriebenen Uhren zur Messung der Zeit eines Kindes oder eines Liebespaars entdecke ich hier nicht. Doch klingen diese zugegebenermaßen auch allzu fantastisch: „Die Dschunke … sollte nach dem Willen ihres Schöpfers auch eine Stimme haben und in ihrem Laderaum ein vom Wind in den Segeln unabhängiges, zweites Uhrwerk, das mit der feingliedrigen Kette eines an der Bordwand glitzernden Ankers aufzuziehen war und einen ganz anderen Zeitlauf als den eines Kindes maß: die Stunden, Tage und Jahre ihres Planers und Erbauers.“
Doch ich kann mir auch so gut vorstellen, dass Kaiser Qianlong von der Zeit besessen war. Ein Kontrollfreak ersten Ranges eigentlich – er als „Himmelssohn“ sollte die Zeit beherrschen, nicht umgekehrt. Unvorstellbar für ihn wahrscheinlich, dass die Zeit ihm irgendwann ein Schnippchen und all die Uhren in seiner Sammlung gleichzeitig sein letztes Stündchen schlagen würden.
Was er wohl zu den neueren Erkenntnissen über das Phänomen der Zeit gesagt hätte? Vermutlich hätte er sie gleich für seine Zwecke genutzt, hätte etwa die gesamte Verbotene Stadt in ein Luftschiff packen und sich damit ins All schießen lassen – denn dort vergeht die Zeit langsamer als auf der Erde. Über das Aufkommen von Armbanduhren hätte er sich vermutlich nicht gefreut – schließlich kann so auch noch der einfachste Bauer aus dem Volk Herr über seine eigene Zeit sein.
Auch für uns scheint die Zeit in der Verbotenen Stadt schneller zu vergehen als außerhalb – als wir uns dem Ausgang nähern, sind bereits vier Stunden vergangen. Es lohnt sich also in jedem Fall, genug Zeit einzuplanen. Und sich danach, wenn die Füße weh tun, eine knusprige Pekingente zu gönnen.
Weitere Infos zur chinesischen Zahlensymbolik:
http://blog.chinatours.de/2012/08/28/chinesische-zahlensymbolik/