laemmchen📚liest: Alexander Keßler – Die Lösung der Ostküstenfrage

Als Deutscher im Mittleren Westen hat man es sicher nicht immer ganz leicht. Vielfach hört man von deutschen Auswanderern, die nach einiger Zeit resigniert aus ihrer neuen Wahlheimat zurückkehren. Die Heile-Welt-Fassade, die Oberflächlichkeit und sicher auch der Konsumwahn der amerikanischen Durchschnittsbevölkerung aus der Mitte der USA bringen die mit der deutschen Direktheit und kritischem Geist Sozialisierten häufig zur Verzweiflung. Man kann es aber auch so machen wie Alexander Keßler, Wahlamerikaner und Autor des vorliegenden Werkes Die Lösung der Ostküstenfrage: Bleiben, „jetzt erst recht“, und über die amerikanische Gesinnung schreiben.

Das erste Buch der geplanten Reihe „Bücher aus der Mitte“ spielt im „Imperium“, Keßlers Bezeichnung für das kapitalistisch-dystopische Amerika. Die Handlung konzentriert sich auf die politische Gegenwart und erstreckt sich in die nahe Zukunft, bis zum 30. Oktober 2020 – ein Wochenende vor der nächsten Präsidentschaftswahl in den USA. Hohe politische Funktionäre erfahren nach und nach von einem Anschlag, der es in sich hat: Pünktlich zum Wahlwochenende planen ehemalige NVA- und Stasi-Offiziere, den Cumbre Vieja-Vulkan auf La Palma zu sprengen und damit einen Tsunami zu verursachen, der die Ostküste der USA treffen soll. Drahtzieher des Anschlags: Jürgen Kleuthen, ehemaliger Generalleutnant, und sein Kollege Maik, die es niemals wirklich verkraften konnten, dass die DDR damals nach der Öffnung der Mauer vom westlichen Kapitalismus überrollt wurde. Sie wollen nun rückwirkend die USA mit ihren eigenen Waffen schlagen, indem sie die in Westdeutschland in den Sechzigern stationierten Nuklearminen zur Sprengung des Vulkans verwenden.

Die Geschichte wird aus mehreren Blickwinkeln und an vielen Schauplätzen erzählt – es geht einmal um die Welt, von den USA über Europa (Deutschland, Griechenland, La Palma) bis nach China. Hauptcharaktere auf amerikanischem Boden sind die ominösen Parteifunktionäre No. 1 und No. 2, und vor allem Sonderermittler Hogan Brokman, der auf dem Schwarzmarkt nach Atomwaffen, sogenannten „Verlorenen Küken“ sucht. Auf deutschem Boden zieht sich die Story von Kleuthen und Maik wie ein roter Faden durch den Roman, zwei Männer, die infolge eines Racheakts am Mörder Sibylles, Kleuthens Nichte, aus Deutschland in den Süden flüchten mussten:

Die Beiden hatten ihre Welt verloren. Zum ersten Mal als der Osten des Landes überrannt wurde, ohne dass sie, die das ja eigentlich abwehren sollten, eine Chance zur Gegenwehr bekommen hatten, und dann in dem langen, mühevollen Prozess der Nachwendezeit, in der sie immer randständiger wurden und sich bedrängt fühlten von dem neuen System. Und als sie schließlich ihr schlagendes junges Herz, Sybille, verloren, da kannten sie kein Halten mehr. Wie das lange Leiden in die stille Raserei umgeschlagen hatte, die Bedrückung der Seele in den vernichtungsschweren Ablauf des kühl planenden Verstandes, darüber sprachen sie nie.

Nun planen sie ihren zweiten Racheakt, den am westlichen Kapitalismus, und entwickeln einen Anschlagsplan, der auf der rhetorischen Frage Barry Goldwaters, eines ultrarechten Präsidentschaftskandidaten, basiert – ob man denn die Ostküste der USA, demokratischer Hotspot, nicht einfach „absägen“ und ins Meer treiben lassen könnte. Kleuthen und seine Sympathisanten planen zwar nicht, die Küste abzusägen, finden jedoch mit Hilfe eines Aufsatzes, der sich mit den Auswirkungen eines Ausbruchs des Cumbre Vieja auf La Palma auseinandersetzt, heraus, dass sie sich mit Hilfe eines Tsunamis einfach „wegschwemmen“ lässt.

Keßler steigt tief ein in Politik und Finanzwirtschaft und scheut sogar vor solch obskuren Themen wie Reifenhandel nicht zurück. Um all diese Verflechtungen zu hundert Prozent nachvollziehen zu können, sollte sich der Leser zumindest ansatzweise für die Verstrickungen der Finanz- und Politikwelt begeistern können. Segen und zugleich Fluch des Buches sind die die intensiven Charakterstudien der einzelnen Figuren, die einem die Protagonisten dieser eigentlich eher gefühlskalten Welt der Politik, die der Autor schildert, sympathisch machen:

Stand “No. 1” drauf, dann war das etwas Großartiges, Wertiges, Schönes, unangreifbar Überlegenes. So wollte er in die Geschichte eingehen, das war sein Anspruch an die Zukunft, auch sein Anspruch an sich selbst. Da war etwas, was Haltung hatte, da war er selbst, der stets instinktiv wusste, was er wollte, wohin er als Nächstes wollte. Das war schon etwas, die Leute spürten das auch, respektierten es. Aber diese Jahre zu füllen, immer wieder durch Worte, Reden, das Richtige zur rechten Zeit zu sagen, der großen Gesellschaft des Imperiums Richtung und Halt zu geben, das hätte Überlegungen verlangt, die er nie angestellt hatte, Überzeugungen, Werte, die ihm eigentlich fremd waren. Etwas was weit über ihn selbst hinaus gezeigt hätte. Sein Weltbild, sein Gesellschaftsbild war realistisch, hart, auch ehrlich, aber es war nie tief genug, um Einzelheiten zu sehen, und er war zu sehr auf sich bezogen, um Zusammenhänge, Kulturen, Geschichte, Werte zu erfassen.

Zusammen mit den geschichtlichen Abschweifungen geben sie dem Roman zwar Fleisch, nehmen der Handlung jedoch manchmal etwas den Wind aus den Segeln und lassen den Hauptplot aus dem Fokus geraten. Zuweilen ist man versucht, ein Blatt zur Hand zu nehmen und all die verschiedenen Charaktere und Nebenhandlungen aufzuzeichnen, um den Überblick zu behalten. Dadurch bleibt die Spannung oft aus; das Werk liest sich mehr wie eine Reportage oder ein politisches Sachbuch denn als ein Thriller.

Für alle, die sich gerne politische Kommentare zu Gemüte führen, ist der Roman ein gefundenes Fressen. Es gibt kaum einen politischen Streitpunkt, den die Figuren im Roman auslassen; diskutiert wird über alles vom Status der Linken im Imperium (also den USA) über Währungspolitik bis hin zum Stand der Universitäten:

Die Universitäten gammelten in Mittelmaß und Halbignoranz vor sich hin und verströmten giftige Gase aus dem Verdauungstrakt der Theorien als Ideologiefetzen in die Köpfe der unschuldigen Nachwachsenden, verpesteten damit die geistige Umwelt in der Gesellschaft des Imperiums. Williams hatte den klaren Blick der Physiker und Mathematiker, und er mochte Menschen, die Menschen waren ohne Adjektive, ohne Gruppenbezeichnungen, ohne einschränkende Moralüberzieher, ohne den ganzen Zivilisationsmüll der rettungslos verklemmten Leute hier in der Kapitale.

Dies alles ist im Großen und Ganzen in einer relativ einfachen, schnörkellosen Sprache gehalten, auf deren Boden manchmal zarte, poetische Ansätze austreiben – etwa wenn der Autor Landschaften beschreibt:

Alles schien jetzt anders gelagert: was in der Ebene gewesen zu sein schien, stand nun auf einem Hügel, eine Strandpromenade rechter Hand war auf die andere Seite gerückt, hatte ein nicht erinnertes Hinterland aus enger Sommerglut entlassen. Sie saßen in Nauplio zwischen Reihen kleiner, weiß gekalkter Häuser und den Girlanden blumenreicher Bäume, die aus dem Pflaster zu wachsen schienen. […]

Vasily sagte: „Als ob ein Mond im Meer liegt.“

Die Sterne glänzen [sic] durch den feuchten Dunst der Nacht über der Peloponnes.

Insgesamt hat Keßler eine hochintelligente Milieustudie verfasst, für die man allerdings Einiges an Sitzfleisch mitbringen muss. Bleibt zu hoffen, dass der Plan des Autors, sein Werk (in eigener Übersetzung) bei einem US-Verlag unterzubringen, aufgeht – und der Roman dann auch ein ansprechendes Cover erhält.

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